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Entschädigung von Strafopfern ist in der EU Pflicht (EuGh, 129/19)

16 Juli 2020, Europäischer Gerichtshof

Jeder Mitgliedstaat hat nach EU Recht die Pflicht, eine Regelung für die Entschädigung der „Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ und nicht nur der Opfer in einem grenzüberschreitenden Fall einzuführen.

Eine pauschale Entschädigung, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie festgelegt wird, ohne die Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer zu berücksichtigen, und daher keinen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt.

 Gerichtshof der Europäischen Union

 (Große Kammer)

16. Juli 2020(*)

ECLI:EU:C:2020:566

„Vorlage zur Vorabentscheidung – Richtlinie 2004/80/EG – Art. 12 Abs. 2 – Nationale Regelungen für die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten, die eine gerechte und angemessene Entschädigung gewährleisten – Geltungsbereich – Opfer, das in dem Mitgliedstaat wohnt, in dem die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde – Pflicht, dieses Opfer unter die nationale Entschädigungsregelung fallen zu lassen – Begriff ‚gerechte und angemessene Entschädigung‘ – Haftung der Mitgliedstaaten bei Verstößen gegen das Unionsrecht“

In der Rechtssache C‑129/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) mit Entscheidung vom 29. Januar 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Februar 2019, in dem Verfahren

Presidenza del Consiglio dei Ministri

gegen

BV,

Beteiligte:

Procura della Repubblica di Torino,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, M. Vilaras (Berichterstatter), E. Regan, M. Safjan und P. G. Xuereb, der Kammerpräsidentin L. S. Rossi und des Kammerpräsidenten I. Jarukaitis sowie der Richter L. Bay Larsen und T. von Danwitz, der Richterin C. Toader und der Richter D. Šváby, C. Lycourgos und N. Piçarra,

Generalanwalt: M. Bobek,

Kanzler: R. Schiano, Verwaltungsrat,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 2. März 2020,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

–        von BV, vertreten durch V. Zeno-Zencovich, U. Oliva, F. Bracciani und M. Bona, avvocati,

–        der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von G. Palatiello, avvocato dello Stato,

–        der Europäischen Kommission, zunächst vertreten durch C. Ladenburger, E. Montaguti und M. Heller, dann durch C. Ladenburger, G. Gattinara, E. Montaguti und M. Heller als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 14. Mai 2020

folgendes

Urteil

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten (ABl. 2004, L 261, S. 15).

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Presidenza del Consiglio dei Ministri (Präsidium des Ministerrats, Italien) und BV über die außervertragliche Haftung, die BV gegen die Italienische Republik wegen eines Schadens geltend macht, der BV wegen der unterbliebenen Umsetzung der Richtlinie 2004/80 in italienisches Recht entstanden sein soll.

 Rechtlicher Rahmen

 Unionsrecht

3        In den Erwägungsgründen 1 bis 3, 6 bis 8 und 10 der Richtlinie 2004/80 heißt es:

„(1)      Die Beseitigung der Hindernisse für den freien Personen- und Dienstleistungsverkehr zwischen den Mitgliedstaaten gehört zu den Zielen der [Union].

(2)      Nach dem Urteil [vom 2. Februar 1989, Cowan (C‑186/87, EU:C:1989:47),] ist es, wenn das [Unions]recht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist. Zur Verwirklichung dieses Ziels sollten unter anderem Maßnahmen ergriffen werden, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.

(3)      Der Europäische Rat hat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere [(Finnland)] dazu aufgerufen, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugang zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche, einschließlich der Prozesskosten – auszuarbeiten.

(6)      Opfer von Straftaten in der Europäischen Union sollten unabhängig davon, an welchem Ort in der Europäischen [Union] die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben.

(7)      Mit dieser Richtlinie wird ein System der Zusammenarbeit eingeführt, damit Opfer von Straftaten in grenzüberschreitenden Fällen leichter Zugang zur Entschädigung erhalten; dieses System sollte sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten stützen. Daher sollte es in allen Mitgliedstaaten eine Entschädigungsregelung geben.

(8)      Die meisten Mitgliedstaaten haben bereits solche Entschädigungsregelungen eingeführt, einige von ihnen aufgrund der Verpflichtungen, die sie im Rahmen des [am 24. November 1983 in Straßburg unterzeichneten] Europäischen Übereinkommens … über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten eingegangen sind.

(10)      Opfer von Straftaten können oft keine Entschädigung vom Täter erhalten, weil dieser möglicherweise nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um einem Schadensersatzurteil nachzukommen, oder weil der Täter nicht identifiziert oder verfolgt werden kann.“

4        Die Richtlinie 2004/80 besteht aus drei Kapiteln. Kapitel I („Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen“) enthält die Art. 1 bis 11. Kapitel II („Einzelstaatliche Entschädigungsregelungen“) besteht aus Art. 12. Kapitel III („Durchführungsbestimmungen“) enthält die Art. 13 bis 21.

5        Art. 1 der Richtlinie 2004/80 lautet:

„Die Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in den Fällen, in denen eine vorsätzliche Gewalttat in einem anderen als dem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem die Entschädigung beantragende Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat, diese berechtigt ist, den Antrag bei einer Behörde oder einer anderen Stelle in letzterem Mitgliedstaat zu stellen.“

6        Nach Art. 2 dieser Richtlinie wird die Entschädigung von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats gezahlt, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde.

7        Art. 12 dieser Richtlinie hat folgenden Wortlaut:

„(1)      Die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen stützen sich auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.

(2)      Alle Mitgliedstaaten tragen dafür Sorge, dass in ihren einzelstaatlichen Rechtsvorschriften eine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten vorgesehen ist, die eine gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer gewährleistet.“

8        Art. 18 („Umsetzung“) der Richtlinie 2004/80 sieht in Abs. 1 vor:

„Die Mitgliedstaaten erlassen die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um dieser Richtlinie spätestens bis zum 1. Januar 2006 nachzukommen; hiervon ausgenommen ist Artikel 12 Absatz 2, dem bis zum 1. Juli 2005 nachzukommen ist. Sie setzen die [Europäische] Kommission unverzüglich davon in Kenntnis.“

 Italienisches Recht

9        Die Legge n. 122 – Disposizioni per l’adempimento degli obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia all’Unione europea – Legge europea 2015-2016 (Gesetz Nr. 122 mit Vorschriften zur Umsetzung der Verpflichtungen aus der Zugehörigkeit Italiens zur Europäischen Union – Europäisches Gesetz 2015-2016) vom 7. Juli 2016 (GURI Nr. 158 vom 8. Juli 2016), die am 23. Juli 2016 in Kraft getreten ist, wurde von der Italienischen Republik erlassen, um u. a. ihrer Pflicht aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nachzukommen.

10      Art. 11 dieses Gesetzes in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Gesetz Nr. 122) erkennt dem Opfer einer vorsätzlich begangenen Gewalttat gegen seine Person, einschließlich sexueller Gewalt, sowie zugunsten der Rechtsnachfolger dieses Opfers, wenn es an den Folgen dieser Straftat verstorben ist, zulasten der Italienischen Republik einen Entschädigungsanspruch zu. Diese Entschädigung bestimmt sich anhand einer Tabelle, die durch das gemäß Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 122 erlassene Ministerialdekret in den Grenzen des Budgets festgelegt wird, das dem in Art. 14 dieses Gesetzes genannten Spezialfonds zugewiesen ist, wenn bestimmte, in Art. 12 dieses Gesetzes vorgesehene Voraussetzungen erfüllt sind.

11      Dieser Entschädigungsanspruch steht außerdem jedem Opfer einer nach dem 30. Juni 2005 und vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 122 vorsätzlich begangenen Gewalttat zu. Ein Antrag auf Entschädigung eines solchen Opfers musste spätestens am 30. September 2019 gestellt werden, andernfalls trat Verfristung ein.

12      Das gemäß Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 122 erlassene Decreto ministeriale – Determinazione degli importi dell’indennizzo alle vittime dei reati intenzionali violenti (Ministerialdekret zur Festsetzung der Höhe der Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten) vom 31. August 2017 (GURI Nr. 237 vom 10. Oktober 2017) in seiner auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Fassung (im Folgenden: Ministerialdekret vom 31. August 2017) legt die Höhe der Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten gemäß folgender Tabelle fest:

„a)      bei Mord: ein fester Betrag von 7 200 Euro und bei Mord durch den Ehegatten, auch nach Trennung oder Scheidung, oder durch eine Person, die emotional an das Opfer gebunden ist oder war: ein fester Betrag von 8 200 Euro ausschließlich zugunsten der Kinder des Opfers; b)      bei sexueller Gewalt nach Art. 609-bis des Strafgesetzbuchs, außer bei Vorliegen des mildernden Umstands der ‚minderen Schwere‘, ein fester Betrag von 4 800 Euro; c)      für andere als die in den Buchst. a und b angeführten Straftaten: bis zu einem Höchstbetrag von 3 000 Euro als Erstattung von medizinischen Kosten und Pflegeaufwand“.

 Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13      In der Nacht vom 15. auf den 16. Oktober 2005 wurde BV, eine in Italien wohnhafte italienische Staatsangehörige, Opfer auf italienischem Staatsgebiet begangener sexueller Gewalt. Die Täter wurden zu Freiheitsstrafen und zur Zahlung von 50 000 Euro als Schadensersatz an BV verurteilt. Da die Täter flüchteten, konnte dieser Betrag jedoch nicht beigetrieben werden.

14      Im Februar 2009 verklagte BV das Präsidium des Ministerrats vor dem Tribunale di Torino (Gericht Turin, Italien) auf Feststellung der außervertraglichen Haftung der Italienischen Republik, weil sie den Pflichten aus der Richtlinie 2004/80, insbesondere denen aus Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie, nicht korrekt und vollständig nachgekommen sei.

15      Mit Urteil vom 26. Mai 2010 gab das Tribunale di Torino (Gericht Turin) den Anträgen von BV statt und verurteilte das Präsidium des Ministerrats, ihr 90 000 Euro zuzüglich gesetzlicher Zinsen und Gerichtskosten zu zahlen.

16      Das Präsidium des Ministerrats legte gegen dieses Urteil Berufung bei der Corte d’appello di Torino (Berufungsgericht Turin, Italien) ein. Dieses Gericht änderte mit Entscheidung vom 23. Januar 2012 das Urteil des Tribunale di Torino (Gericht Turin) dahin ab, dass es den Betrag der Entschädigung auf 50 000 Euro herabsetzte, und bestätigte das Urteil im Übrigen.

17      Das Präsidium des Ministerrats legte beim vorlegenden Gericht Kassationsbeschwerde ein. Mit seiner Kassationsbeschwerde machte es u. a. geltend, dass die Richtlinie 2004/80 keine Rechte begründe, die ein Unionsbürger seinem Wohnsitzmitgliedstaat entgegenhalten könne, da sie nur grenzüberschreitende Fälle betreffe und darauf abziele, den Zugang der Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat, die im Staatsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als dem ihres Wohnsitzes begangen worden sei, zu Entschädigungsverfahren sicherzustellen, die in dem Mitgliedstaat vorgesehen seien, in dem diese Straftat begangen worden sei.

18      Erstens ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass der Gerichtshof im Urteil vom 11. Oktober 2016, Kommission/Italien (C‑601/14, EU:C:2016:759, Rn. 45 und 48 bis 50), seine frühere Rechtsprechung bestätigt habe, wonach die Richtlinie 2004/80 nur grenzüberschreitende Fälle regeln solle, indem sie sicherstelle, dass Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem ihres gewöhnlichen Aufenthalts begangen worden sei, von dem Mitgliedstaat entschädigt würden, in dem die Straftat begangen worden sei. Das vorlegende Gericht leitet aus dieser Rechtsprechung ab, dass sich in Italien wohnhafte Opfer vorsätzlicher Gewalttaten gegenüber dem italienischen Staat nicht sofort und unmittelbar auf Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 berufen könnten.

19      Nach den allgemeinen Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit, wie sie in den Art. 18 AEUV sowie in den Art. 20 und 21 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert seien, könne jedoch die Auffassung vertreten werden, dass die Italienische Republik die Richtlinie 2004/80 dadurch, dass sie die Anwendung der nationalen Entschädigungsregelung auf die Opfer in grenzüberschreitenden Fällen beschränkt habe, nicht vollständig habe umsetzen können, da eine solche Beschränkung in Italien wohnhafte italienische Staatsbürger einer ungerechtfertigten diskriminierenden Behandlung ausgesetzt habe.

20      Auf der Grundlage dieser Feststellungen ist das vorlegende Gericht der Auffassung, dass es zur Verhinderung von Diskriminierungen den Opfern vorsätzlicher Gewalttaten möglich sein müsse, ein Recht auf Zugang zur Entschädigungsregelung des Mitgliedstaats geltend zu machen, in dem die in Rede stehende Tat begangen worden sei, unabhängig davon, ob es sich um einen grenzüberschreitenden Fall handele oder ob sie in diesem Mitgliedstaat wohnten.

21      Im vorliegenden Fall sei die Notwendigkeit, solche Diskriminierungen zu verhindern, weiterhin von Bedeutung, auch wenn BV in den Genuss des vom Gesetz Nr. 122 anerkannten Entschädigungsanspruchs kommen könne, das zwar nach der Erhebung ihrer Klage aus außervertraglicher Haftung gegen die Italienische Republik in Kraft getreten sei, aber rückwirkend auch auf sie anwendbar sei. Im Rahmen dieser Klage mache BV nämlich geltend, dass ihr wegen des Verstoßes der Italienischen Republik gegen deren Pflicht zur rechtzeitigen Umsetzung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ein Schaden entstanden sei, und nicht den Anspruch nach italienischem Recht auf die derzeit vom Gesetz Nr. 122 vorgesehene Entschädigung.

22      Zweitens hat das vorlegende Gericht Zweifel, ob der vom Ministerialdekret vom 31. August 2017 für die Entschädigung der Opfer sexueller Gewalt wie der Klägerin des Ausgangsverfahrens vorgesehene Pauschalbetrag von 4 800 Euro gerecht und angemessen im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ist.

23      Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, dass die italienischen Gerichte in kürzlich ergangenen Urteilen die Entschädigungen, die als Wiedergutmachung des sich aus sexueller Gewalt ergebenden Schadens gewährt worden seien, auf Beträge zwischen 10 000 Euro und 200 000 Euro festgelegt hätten. Zudem schwankten die Beträge der Entschädigungen, die Opfern gewährt worden seien, die Klagen aus außervertraglicher Haftung gegen die Italienische Republik wegen ihres Versäumnisses, die Richtlinie 2004/80 in ihr innerstaatliches Recht umzusetzen, erhoben hätten, zwischen 50 000 Euro und 150 000 Euro. In Anbetracht dieser Beträge könne der Pauschalbetrag von 4 800 Euro als „nicht angemessen“ oder sogar „lächerlich“ bezeichnet werden.

24      Daher hat die Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtsgerichtshof, Italien) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Schreibt – in Bezug auf den Fall einer verspäteten (und/oder unvollständigen) Umsetzung der Richtlinie 2004/80, die hinsichtlich der darin vorgeschriebenen Einführung einer Regelung für die Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten nicht unmittelbar anwendbar ist („non self-executing“) und gegenüber Personen in grenzüberschreitenden Situationen, auf die allein die Richtlinie abzielt, eine Haftung des Mitgliedstaats für Schäden nach den Grundsätzen der Rechtsprechung des Gerichtshofs bewirkt (u. a. Urteile vom 19. November 1991, Francovich u. a., C‑6/90 und C‑9/90, EU:C:1991:428, und vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79) – das Unionsrecht vor, eine entsprechende Haftung des Mitgliedstaats gegenüber Personen vorzusehen, die sich nicht in einer grenzüberschreitenden Situation befinden (also ihren Wohnsitz im Inland haben) und nicht die unmittelbaren Adressaten der Vorteile aus der Umsetzung der Richtlinie wären, die jedoch, damit ein Verstoß gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung/der Nichtdiskriminierung nach dem Unionsrecht vermieden wird, über eine Ausweitung in den Genuss der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie selbst (oder der angeführten Entschädigungsregelung) kommen könnten und müssten, wenn die Richtlinie rechtzeitig und vollständig umgesetzt worden wäre?

2.      Falls die erste Frage bejaht wird: Kann die zugunsten der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten (und insbesondere des Straftatbestands der sexuellen Gewalt nach Art. 609-bis des Codice penale [Strafgesetzbuch]) durch das Ministerialdekret vom 31. August 2017 (erlassen nach Art. 11 Abs. 3 des Gesetzes Nr. 122) mit einem Fixbetrag von 4 800 Euro festgesetzte Entschädigung als „gerechte und angemessene Entschädigung der Opfer“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 angesehen werden?

 Zu den Vorlagefragen

 Zur eventuellen Erledigung

25      Wie das vorlegende Gericht ausführt, hat die Italienische Republik nach der Erhebung der gegen sie gerichteten Klage aus außervertraglicher Haftung, die den Gegenstand des Ausgangsverfahrens bildet, eine Regelung zur Entschädigung von Opfern im italienischen Staatsgebiet begangener vorsätzlicher Gewalttaten – unabhängig davon, ob sie in Italien wohnen oder nicht – eingeführt. Diese Regelung erfasst rückwirkend auch Straftaten dieser Art, die ab dem 1. Juli 2005 begangen wurden, und damit die Taten sexueller Gewalt, deren Opfer BV war.

26      Nach den Ausführungen der italienischen Regierung hat BV eine Klage auf Entschädigung im Rahmen dieser Regelung erhoben, und am 14. März 2019, d. h. nach der Einreichung des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens, sei eine Entscheidung erlassen und der zuständigen Behörde zur Durchführung übermittelt worden, mit der BV für die von ihr erlittene sexuelle Gewalt eine Entschädigung in Höhe von 4 800 Euro zugesprochen worden sei, die der vom Ministerialdekret vom 31. August 2017 vorgesehenen Entschädigung entspreche. Die italienische Regierung leitet daraus ab, dass das Ausgangsverfahren nunmehr gegenstandslos sei, so dass die Fragen des vorlegenden Gerichts hypothetischen Charakter hätten.

27      Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

28      Wie aus den Rn. 16 und 17 des vorliegenden Urteils hervorgeht, ist das vorlegende Gericht mit einer Kassationsbeschwerde gegen eine Entscheidung der Corte d’appello di Torino (Berufungsgericht Turin) befasst, mit der die Italienische Republik verurteilt wurde, an BV eine Entschädigung in Höhe von 50 000 Euro zu zahlen.

29      Sollte das vorlegende Gericht im Stadium der Kassationsbeschwerde Tatsachen aus der Zeit nach der Entscheidung, gegen die sich diese Kassationsbeschwerde richtet, nämlich die Gewährung einer Entschädigung in Höhe von 4 800 Euro an BV gemäß der italienischen Entschädigungsregelung als Wiedergutmachung für die von ihr erlittene sexuelle Gewalt, berücksichtigen können, ist jedenfalls darauf hinzuweisen, dass die Nachteile, die sich aus der verspäteten Umsetzung dieser Richtlinie ergeben, durch eine rückwirkende, ordnungsgemäße und vollständige Anwendung der Durchführungsmaßnahmen einer Richtlinie grundsätzlich behoben werden können und eine angemessene Wiedergutmachung des Schadens, den die Begünstigten dieser Richtlinie wegen der verspäteten Umsetzung erlitten haben, sichergestellt werden kann, sofern diese Begünstigten nicht dartun, dass ihnen zusätzliche Einbußen dadurch entstanden sind, dass sie nicht rechtzeitig in den Genuss der durch die Richtlinie garantierten finanziellen Vergünstigungen gelangen konnten; für diese Einbußen wären sie ebenfalls zu entschädigen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 24. Januar 2018, Pantuso u. a., C‑616/16 und C‑617/16, EU:C:2018:32, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

30      Wie in Rn. 21 des vorliegenden Urteils ausgeführt, zielt die Klage von BV, auf die der Ausgangsrechtsstreit zurückgeht und die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes Nr. 122 erhoben wurde, das ihr rückwirkend einen Entschädigungsanspruch zuerkennt, darauf ab, dass die Italienische Republik zur Wiedergutmachung des Schadens verurteilt wird, den die Betroffene wegen des Verstoßes dieses Mitgliedstaats gegen die Pflicht zur rechtzeitigen Umsetzung von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 erlitten haben soll.

31      Die Entscheidung dieses Rechtsstreits erfordert also die Prüfung, ob dieser Art. 12 Abs. 2 Einzelpersonen wie BV ein Recht einräumt, auf das sie sich berufen können, um einen Mitgliedstaat für einen Verstoß gegen das Unionsrecht in Anspruch zu nehmen, und, falls dies bejaht wird, ob die Entschädigung in Höhe von 4 800 Euro, die die italienischen Behörden der Betroffenen auf der Grundlage des Ministerialdekrets vom 31. August 2017 zu gewähren beschlossen haben, eine „gerechte und angemessene Entschädigung“ im Sinne dieses Art. 12 Abs. 2 darstellt.

32      Daraus folgt, dass die vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits immer noch von Interesse sind und nicht als „hypothetisch“ eingestuft werden können. Der Gerichtshof hat sie daher zu beantworten.

 Zur ersten Frage

33      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für den Schaden, der durch den Verstoß gegen dieses Recht entstanden ist, mit der Begründung, dass dieser Mitgliedstaat Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nicht rechtzeitig umgesetzt hat, auf Opfer mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, in dessen Hoheitsgebiet auch die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde, anwendbar ist.

34      Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs die Geschädigten für Schäden, die durch einem Mitgliedstaat zuzurechnende Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, einen Ersatzanspruch haben, wenn drei Voraussetzungen erfüllt sind: Die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, ihnen Rechte zu verleihen, der Verstoß gegen diese Norm ist hinreichend qualifiziert, und zwischen diesem Verstoß und dem den Geschädigten entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 5. März 1996, Brasserie du pêcheur und Factortame, C‑46/93 und C‑48/93, EU:C:1996:79, Rn. 51, vom 30. September 2003, Köbler, C‑224/01, EU:C:2003:513, Rn. 51, und vom 28. Juli 2016, Tomášová, C‑168/15, EU:C:2016:602, Rn. 22).

35      Grundsätzlich obliegt es den nationalen Gerichten, die Voraussetzungen für die Haftung der Mitgliedstaaten für Schäden, die Einzelnen durch Verstöße gegen das Unionsrecht entstanden sind, entsprechend den vom Gerichtshof hierfür entwickelten Leitlinien konkret anzuwenden (Urteile vom 13. März 2007, Test Claimants in the Thin Cap Group Litigation, C‑524/04, EU:C:2007:161, Rn. 116, und vom 4. Oktober 2018, Kantarev, C‑571/16, EU:C:2018:807, Rn. 95).

36      Im vorliegenden Fall muss für die Prüfung der ersten Voraussetzung, auf die sich die der vorliegenden Rechtssache zugrunde liegenden Fragen des vorlegenden Gerichts gerade beziehen, untersucht werden, ob Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, eine Regelung für die Entschädigung aller Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten einzuführen, die eine gerechte und angemessene Entschädigung gewährleistet, und ob diese Bestimmung somit allen diesen Opfern einschließlich derjenigen, die im betreffenden Mitgliedstaat wohnen, einen Anspruch auf eine solche Entschädigung einräumt.

37      Wie aus ihrem Wortlaut hervorgeht, beruht die erste Frage des vorlegenden Gerichts auf der Prämisse, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 den Mitgliedstaaten die Pflicht auferlegt, eine Regelung zur Entschädigung der Opfer vorsätzlich begangener Gewalttaten nur für die Opfer in einem grenzüberschreitenden Fall einzuführen, d. h. gemäß Art. 1 dieser Richtlinie für die Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat, die in einem anderen Mitgliedstaat als dem begangen wurde, in dem sie ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben. Auf der Grundlage dieser Prämisse fragt sich das vorlegende Gericht jedoch, ob zur Verhinderung eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung auch den Opfern einer solchen Tat, die im betreffenden Mitgliedstaat wohnen, diese Entschädigungsregelung zugutekommen muss.

38      Für die Prüfung, ob diese Prämisse zutrifft, ist es daher erforderlich, Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 auszulegen. Hierbei sind nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht nur der Wortlaut dieser Bestimmung zu berücksichtigen, sondern auch ihr Kontext und die Ziele, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteil vom 26. Februar 2019, Rimšēvičs und EZB/Lettland, C‑202/18 und C‑238/18, EU:C:2019:139, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Was erstens den Wortlaut von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 betrifft, ist festzustellen, dass in dieser Bestimmung allgemein von der Pflicht der Mitgliedstaaten die Rede ist, eine Regelung für die Entschädigung der „Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ und nicht nur der Opfer in einem grenzüberschreitenden Fall einzuführen.

40      Was zweitens den Kontext betrifft, in den sich Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 einfügt, ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 dieser Richtlinie den einzigen Artikel von deren Kapitel II darstellt, in dem es gemäß seiner Überschrift um „[e]inzelstaatliche Entschädigungsregelungen“ geht. Im Unterschied zur Überschrift von Kapitel I der Richtlinie betrifft die ihres Kapitels II nicht speziell „grenzüberschreitende Fälle“.

41      Art. 12 Abs. 1 der Richtlinie 2004/80 sieht vor, dass sich die in dieser Richtlinie festgelegten Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen „auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ stützen.

42      Daraus geht hervor, dass sich der Unionsgesetzgeber nicht für die Einführung einer speziellen Entschädigungsregelung durch jeden Mitgliedstaat, die nur auf die Opfer von vorsätzlichen Gewalttaten in einem grenzüberschreitenden Fall beschränkt ist, entschieden hat, sondern für die Anwendung nationaler Regelungen für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten.

43      Folglich legt Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 jedem Mitgliedstaat die Pflicht auf, eine Regelung für die Entschädigung der Opfer all jener Straftaten einzuführen, die zu den in seinem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten zählen.

44      Hierzu ist festzustellen, wie aus dem achten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 hervorgeht, dass zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Richtlinie eine solche Regelung im geltenden Recht der meisten Mitgliedstaaten vorgesehen war. Wie die Kommission in ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen ausgeführt hat, hatten jedoch zu diesem Zeitpunkt zwei Mitgliedstaaten noch keine Regelung für die Entschädigung der Opfer von in ihrem Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten eingeführt.

45      Sieht ein Mitgliedstaat keine solche Regelung vor, kann er seinen Pflichten hinsichtlich des Zugangs zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen, wie sie sich aus der Richtlinie 2004/80 ergeben, nicht nachkommen, da sich nach Art. 12 Abs. 1 dieser Richtlinie die Vorschriften über den Zugang zur Entschädigung in solchen Fällen „auf die Regelungen der Mitgliedstaaten für die Entschädigung der Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten“ stützen.

46      Was drittens die mit der Richtlinie 2004/80 verfolgten Ziele angeht, so verweist ihr erster Erwägungsgrund zwar auf die Absicht des Unionsgesetzgebers, die Hindernisse für den freien Personenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen.

47      Zudem heißt es im zweiten Erwägungsgrund dieser Richtlinie nach einem Hinweis auf die Rechtsprechung, nach der es, wenn das Unionsrecht einer natürlichen Person die Freiheit garantiert, sich in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben, zwingende Folge dieser Freizügigkeit ist, dass Leib und Leben dieser Person in dem betreffenden Mitgliedstaat in gleicher Weise geschützt sind, wie dies bei den eigenen Staatsangehörigen und den in diesem Staat wohnhaften Personen der Fall ist (Urteil vom 2. Februar 1989, Cowan, 186/87, EU:C:1989:47, Rn. 17), dass zur Verwirklichung dieses Ziels Maßnahmen ergriffen werden sollten, um die Entschädigung der Opfer von Straftaten zu erleichtern.

48      Es sind jedoch auch die Erwägungsgründe 3, 6, 7 und 10 dieser Richtlinie zu berücksichtigen.

49      Im dritten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80 wird darauf hingewiesen, dass der Europäische Rat auf seiner Tagung am 15. und 16. Oktober 1999 in Tampere dazu aufgerufen hat, Mindeststandards für den Schutz der Opfer von Verbrechen – insbesondere hinsichtlich deren Zugangs zum Recht und ihrer Schadensersatzansprüche – auszuarbeiten.

50      Hierzu ergibt sich aus dem sechsten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80, dass Opfer von Straftaten in der Union unabhängig davon, an welchem Ort in der Union die Straftat begangen wurde, Anspruch auf eine gerechte und angemessene Entschädigung für die ihnen zugefügte Schädigung haben sollten. Wie der siebte Erwägungsgrund dieser Richtlinie klarstellt, sollten daher alle Mitgliedstaaten über eine Regelung für die Entschädigung dieser Opfer verfügen.

51      Darüber hinaus heißt es im zehnten Erwägungsgrund der Richtlinie 2004/80, dass der Unionsgesetzgeber die Schwierigkeiten berücksichtigen wollte, auf die Opfer vorsätzlicher Gewalttaten oft stoßen, um eine Entschädigung vom Täter zu erhalten, weil dieser möglicherweise nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, um einem Schadensersatzurteil nachzukommen, oder weil der Täter nicht identifiziert oder verfolgt werden kann. Wie der Sachverhalt des vorliegenden Falls verdeutlicht, können die Opfer dieser Straftaten auch auf solche Schwierigkeiten stoßen, wenn sie in dem Mitgliedstaat wohnen, in dem die in Rede stehende Tat begangen wurde.

52      Aus den in den Rn. 39 bis 51 des vorliegenden Urteils dargestellten Erwägungen ergibt sich, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 jedem Mitgliedstaat die Pflicht auferlegt, eine Regelung für die Entschädigung aller Opfer von in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet vorsätzlich begangenen Gewalttaten einzuführen, und nicht nur der Opfer in einem grenzüberschreitenden Fall.

53      Diese Erwägung wird nicht durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs in Frage gestellt, nach der die Richtlinie 2004/80 ein Entschädigungssystem nur für den Fall einer vorsätzlichen Gewalttat vorsieht, die in einem Mitgliedstaat begangen wurde, in dem das Opfer sich in Ausübung seines Rechts auf Freizügigkeit befindet, so dass eine rein innerstaatliche Fallgestaltung nicht in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 28. Juni 2007, Dell’Orto, C‑467/05, EU:C:2007:395, Rn. 59, und vom 12. Juli 2012, Giovanardi u. a., C-79/11, EU:C:2012:448, Rn. 37, sowie Beschluss vom 30. Januar 2014, C., C‑122/13, EU:C:2014:59, Rn. 12).

54      Mit dieser Rechtsprechung hat der Gerichtshof nämlich lediglich festgestellt, dass das durch Kapitel I der Richtlinie 2004/80 eingeführte System der Zusammenarbeit nur den Zugang zur Entschädigung in grenzüberschreitenden Fällen betrifft, ohne jedoch die Tragweite von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie, der sich in deren Kapitel II befindet, zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Oktober 2016, Kommission/Italien, C‑601/14, EU:C:2016:759, Rn. 49).

55      Daraus folgt, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 das Recht, eine gerechte und angemessene Entschädigung zu erhalten, nicht nur den Opfern von im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats vorsätzlich begangenen Gewalttaten in einem grenzüberschreitenden Fall im Sinne von Art. 1 dieser Richtlinie verleiht, sondern auch den Opfern, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats haben. Vorbehaltlich der Hinweise in Rn. 29 des vorliegenden Urteils und sofern die weiteren von der in Rn. 34 dieses Urteils angeführten Rechtsprechung vorgesehenen Voraussetzungen erfüllt sind, hat daher der Einzelne Anspruch auf Entschädigung für die Schäden, die ihm durch den Verstoß eines Mitgliedstaats gegen seine sich aus Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ergebende Pflicht entstanden sind, und zwar unabhängig von der Frage, ob er sich zu dem Zeitpunkt, zu dem er Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat wurde, in einer solchen grenzüberschreiten Situation befand.

56      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für den Schaden, der durch den Verstoß gegen dieses Recht entstanden ist, mit der Begründung, dass dieser Mitgliedstaat Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nicht rechtzeitig umgesetzt hat, auf Opfer mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, in dem auch die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde, anwendbar ist.

 Zur zweiten Frage

57      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 dahin auszulegen ist, dass eine pauschale Entschädigung von 4 800 Euro, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung über die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung einzustufen ist.

58      Da die Richtlinie 2004/80 zur Höhe der Entschädigung, die einer „gerechten und angemessenen“ Entschädigung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie entsprechen soll, und zu den Modalitäten der Festlegung einer solchen Entschädigung keine Angaben macht, ist davon auszugehen, dass diese Bestimmung den Mitgliedstaaten insoweit ein Ermessen einräumt.

59      Hierzu ist festzustellen, dass die in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 genannte Entschädigung gemäß Art. 2 dieser Richtlinie nicht vom Täter der betreffenden Gewalttat selbst, sondern von der zuständigen Behörde des Mitgliedstaats, in dessen Hoheitsgebiet die Straftat begangen wurde, mittels einer nationalen Entschädigungsregelung zu zahlen ist, deren finanzielle Tragfähigkeit sicherzustellen ist, um eine gerechte und angemessene Entschädigung für jedes Opfer einer im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats begangenen vorsätzlichen Gewalttat zu gewährleisten.

60      Daher ist davon auszugehen, wie der Generalanwalt in den Nrn. 137 bis 139 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, dass die in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 genannte „gerechte und angemessene“ Entschädigung nicht zwangsläufig dem Schadensersatz entsprechen muss, der dem Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat zulasten des Täters dieser Tat zugesprochen werden kann. Folglich muss diese Entschädigung nicht unbedingt eine vollständige Wiedergutmachung des vom Opfer erlittenen materiellen und immateriellen Schadens sicherstellen.

61      In diesem Kontext ist es letztlich Sache des nationalen Gerichts, nach Maßgabe der nationalen Bestimmungen, mit denen die betreffende Entschädigungsregelung eingeführt worden ist, sicherzustellen, dass der einem Opfer einer vorsätzlichen Gewalttat gemäß dieser Regelung gewährte Betrag eine „gerechte und angemessene“ Entschädigung im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 darstellt.

62      Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort zu geben, ist jedoch im Rahmen des in Art. 267 AEUV vorgesehenen Verfahrens auf die relevanten Gesichtspunkte zur Auslegung von Art. 12 Abs. 2 dieser Richtlinie hinzuweisen, die für die in der vorherigen Randnummer angesprochene Prüfung zu berücksichtigen sind.

63      So würde ein Mitgliedstaat sein Ermessen, das ihm durch Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 eingeräumt wird, überschreiten, wenn seine nationalen Bestimmungen für die Opfer vorsätzlicher Gewalttaten eine in Anbetracht der Schwere der Folgen der begangenen Tat für diese Opfer rein symbolische oder offensichtlich unzureichende Entschädigung vorsähen.

64      Im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 stellt die solchen Opfern gewährte Entschädigung nämlich einen Beitrag zur Wiedergutmachung des von diesen erlittenen materiellen und immateriellen Schadens dar. Ein solcher Beitrag kann als „gerecht und angemessen“ angesehen werden, wenn er in adäquatem Umfang das Leid ausgleicht, dem sie ausgesetzt waren.

65      Nach dieser Klarstellung ist in Bezug auf die von der Italienischen Republik eingeführte Regelung für die Entschädigung der Opfer vorsätzlicher Gewalttaten noch festzustellen, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 nicht dahin ausgelegt werden kann, dass er einer pauschalen Entschädigung solcher Opfer entgegensteht, da der jedem Opfer gewährte Pauschalbetrag je nach der Art der erlittenen Gewalt variieren kann.

66      Ein Mitgliedstaat, der sich für eine solche Entschädigungsregelung entscheidet, muss sich jedoch vergewissern, dass die Entschädigungstabelle hinreichend detailliert ist, um so zu verhindern, dass sich eine für eine bestimmte Art von Gewalt vorgesehene pauschale Entschädigung in Anbetracht der Umstände eines Einzelfalls als offensichtlich unzureichend erweist.

67      Insbesondere in Bezug auf sexuelle Gewalt ist anzumerken, dass diese zu den schwerwiegendsten Folgen vorsätzlicher Gewalttaten führen kann.

68      Vorbehaltlich der Prüfung durch das vorlegende Gericht scheint ein Pauschalbetrag von 4 800 Euro für die Entschädigung des Opfers sexueller Gewalt auf den ersten Blick nicht einer „gerechten und angemessen Entschädigung“ im Sinne von Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 zu entsprechen.

69      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 dahin auszulegen ist, dass eine pauschale Entschädigung, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie festgelegt wird, ohne die Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer zu berücksichtigen, und daher keinen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt.

 Kosten

70      Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

1.      Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass die Regelung über die außervertragliche Haftung eines Mitgliedstaats für den Schaden, der durch den Verstoß gegen dieses Recht entstanden ist, mit der Begründung, dass dieser Mitgliedstaat Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80/EG des Rates vom 29. April 2004 zur Entschädigung der Opfer von Straftaten nicht rechtzeitig umgesetzt hat, auf Opfer mit Wohnsitz in diesem Mitgliedstaat, in dem auch die vorsätzliche Gewalttat begangen wurde, anwendbar ist.

2.      Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie 2004/80 ist dahin auszulegen, dass eine pauschale Entschädigung, die Opfern sexueller Gewalt gemäß einer nationalen Regelung für die Entschädigung von Opfern vorsätzlicher Gewalttaten gewährt wird, nicht als „gerecht und angemessen“ im Sinne dieser Bestimmung eingestuft werden kann, wenn sie festgelegt wird, ohne die Schwere der Folgen der begangenen Tat für die Opfer zu berücksichtigen, und daher keinen adäquaten Beitrag zur Wiedergutmachung des erlittenen materiellen und immateriellen Schadens darstellt.

Unterschriften